Filmprojekt "Tobias" des LK Geschichte als Beitrag des BNT zur Projektwoche der Berufsbildenden Schulen in Trier unter dem Motto "Für Vielfalt, Fairness und Toleranz" (Jan. 2013)
Tobias (Kurzgeschichte)
„Mach’s gut Kamerad“, „Hau rein“ sagen seine Freunde in Springerstiefeln und lassen ihn allein. Vier große Glastüren bauen sich vor Tobias auf. „BALTHASAR NEUMANN TECHNIKUM“ steht auf dem Eingangsschild. Er greift in seine Bomberjacke und zieht ein sehr achtlos zusammengefaltetes Papier aus seiner Tasche. Als er es öffnet, ist der Kopf des Papieres zu erkennen. "Aufnahmeantrag für berufliche Gymnasien in Rheinland-Pfalz“. Der Eintrag „Staatsangehörigkeit: DEUTSCH“ macht ihn stolz. Tobias betritt die Eingangshalle der Schule. Nach einem Blick auf die Ausschilderung marschiert er zielstrebig in Richtung Sekretariat. Unterstützt von schweren Armeestiefeln schallen seine Schritte durch die leere Halle. Die Sekretärin schickt ihn zu Raum 3.08. Dort angekommen, hält er kurz inne und greift erneut in seine Tasche. Es kommt eine alte Taschenuhr zum Vorschein, die seinen Blick fesselt. Es ist 8 Uhr 15, der Unterricht hat bereits begonnen, doch sein Blick gilt nicht der Uhrzeit, sondern der Inschrift auf der Rückseite, in der er sich kurz verliert: „Meine Ehre heißt Treue“. Das mächtige schwarze Hakenkreuz unter der Schrift glänzt in seinen Augen und erfüllt ihn mit Stärke und Zuversicht.
Seine Faust pocht kräftig gegen die Klassentür. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnet er sie schwungvoll und tritt ein. Undefinierbares Schweigen erfüllt den Raum, bis der Lehrer die Stille unterbricht. „Ah, du musst Tobias Meyers sein, ist das richtig?“ „Jawohl, das ist richtig!“. „Nimm doch bitte Platz“, fordert ihn der Lehrer in einem nüchternen Ton auf und verweist auf den leeren Stuhl neben einem Türken in der ersten Reihe. Ein ungewöhnliches Gefühl macht sich in ihm breit; er sitzt in einem Raum zwischen Deutschen, Türken, Schwarzen und niemand kümmert sich darum, dass hier ganz offensichtlich 'Rassen‘ vermischt werden. Auch in den folgenden Tagen ändert sich nichts an seiner abneigenden Haltung gegenüber der Situation an der neuen Schule.
Mittlerweile sind zwei Wochen vergangen und Tobias lebt mit der Situation, indem er versucht, seinen türkischen Banknachbarn regelrecht zu ignorieren und sich auch dem Rest der Klassengemeinschaft zu entziehen. Doch im Geschichtsunterricht erkennt Tobias, dass, wenn er seine rechtsradikale Einstellung vor seinen Mitschülern behaupten will, es nicht möglich ist, Konfrontationen mit den anderen zu vermeiden. Der Klassenraum wird abgedunkelt und auf dem Smartboard erscheint eine Bildmontage. Über einer Mischung aus Karikatur und Foto liest er „Nationalsozialismus - früher und heute“. Tobias‘ Banknachbar Murat ist der Meinung, dass die Darstellung nachvollziehbar und berechtigt ist. Doch er zerbricht sich den Kopf nach der Antwort auf die Frage, die ihm ständig im Kopf herumschwirrt: „Wie kann man sich in der heutigen Zeit noch so einer Gruppierung anschließen?“ Diese Frage beschäftigt Murat wirklich sehr und er murmelt sie unbewusst, aber deutlich zu verstehen, mehrmals vor sich her. Murat wirkt völlig abwesend und bemerkt gar nicht, dass ihm Tobias einen zutiefst verabscheuenden und entsetzten Blick zuwirft. „Das ist eine Montage, bewusst so inszeniert. Niemals waren die Nationalsozialisten so wie sie heute dargestellt werden!“, faucht er Murat an…
… Dienstag
TI-30 ECO-RS ist eigentlich ein Taschenrechner der neueren Generation. Er funktioniert ohne Batterien und wird lediglich durch kleine Solarzellen angetrieben, die das Licht seiner Umgebung sammeln. Der Taschenrechner liegt auf der Schulbank in der ersten Reihe des Raumes 3.08. Der Besitzer ist Tobias. Der jedoch macht keine Anstalten diesen zu bedienen.
Ellenbogen auf dem Tisch, Hände vor den Kopf geschlagen und die Füße samt Springerstiefel stehen eng zusammen. Er wirkt auf einmal winzig, zusammengekauert und vollkommen ratlos - ein Bild, das so gar nicht zum sonst so starken, selbstbewussten und souveränen Nazi Tobias passt. Der eiserne Stuhl seines Banknachbarn Murat kratzt über den leicht staubigen Klassenboden. Tobias nimmt die Hände vom Kopf und richtet sich auf, sichtlich genervt über das Geräusch, das Murat mit seinem Stuhl erzeugt. Doch zu seiner Verwunderung war Murats Blick ihm zugewandt. Obwohl er um keine Hilfe bei der Aufgabe in Mathematik gebeten hat, beugt sich Murat zu ihm herüber, legt das Heft mit seinen Lösungen auf Tobias‘ Tisch und rechnet ihm die komplette Aufgabe mit einer unendlichen Ruhe vor. „Auch wenn ich nicht sagen kann, dass ich deine Einstellung zum Nationalsozialismus nachvollziehen kann, aber wenn du Probleme hast, frag doch einfach!“ …
… Mittwoch
„Syntax Error. Missing code to start engineering…”. Das Programmierungsdisplay blinkt nun bereits zwei Stunden mit derselben Meldung, doch auch Tobias, der das Potential eines außerordentlich begabten Programmierers besitzt, schafft es nicht, den technischen Projektroboter zum Laufen zu bringen. Angelockt von Ton und Licht der roten Fehlersirene betreten Anna und Jan, zwei 13er, das Techniklabor. „Was gibt’s für ein Problem?“ Tobias zeigt mit dem Finger auf das grell leuchtende Display mit der Inschrift „Syntax Error. Missing code to start engineering…” Anna geht zielstrebig in Richtung Rechner, hält kurz inne, geht zum Roboter, wo ihr dann ein Grinsen von den Lippen weicht. Sie geht zum Werkzeugschrank, nimmt einen ungewöhnlichen Schraubenschlüssel hervor und gibt ihn Tobias. „Finde jemanden, der weiß, wie man die Spule austauscht, und starte dann dein Programm neu. Der Code stimmt, nur wenn die Spule nicht funktioniert, wird auch dein Code nicht akzeptiert, das Problem hatten wir im letzten Jahr auch.“ Tobias entgegnet Anna mit einer bedankenden Kopfbewegung und blickt zu Marius, der von seinem Platz aufgestanden ist und gelassen auf ihn zu kommt. „Gib mir den Schlüssel, die Spule kann ich wechseln. Starte dein Programm auf mein Kommando neu.“ Tobias nickt erneut und gibt Marius den Schlüssel. „3, 2, 1, Neustart“. Das Programm läuft und auch Tobias kann sich ein leichtes Siegerlächeln nicht verkneifen…
… Donnerstag
Die Pausenklingel beendet die Ruhe auf den Korridoren und ist bis hinaus vor die Türen der Schule zu hören. Schülermassen strömen hinaus und der Schulhof füllt sich. Auch Tobias betritt den Schulhof. Er atmet tief durch, als ihm der erste Windzug durchs Gesicht bläst. Ihm fällt nicht einmal auf, dass der Schnürsenkel seines rechten Stiefels schon seit längerem offen ist, denn Dreck, Staub und Feuchtigkeit haben sich bereits daran festgesetzt. Ihm fällt eine Gruppe mit ein paar seiner Mitschüler auf, die vor der Sporthalle steht und in der einer herzhafter lacht als der andere, doch mit niemandem von ihnen hat er bislang ein Wort gewechselt. Umso überraschter ist seine Mine, als sich sein Blick mit dem eines großen, leicht blassen Typen kreuzt, der ihm daraufhin zuwinkt und ihn auffordert, sich zu ihnen zu stellen. Tobias ist vollkommen verwirrt, er kann sich nicht erklären, warum er der Aufforderung folgt, doch ihm gefällt dieses unbekümmerte Gefühl, das in ihm wächst und seine alten Ansichten in den Hintergrund treibt…
… Freitag
Tobias blickt auf seine Taschenuhr. Es ist Punkt drei Uhr, der Unterricht ist beendet. Er verlässt die Klasse und bringt die sechzig Stufen bis ins Erdgeschoss trotz Springerstiefel zügig hinter sich, ohne aus der Puste zu kommen. Er verlässt die Schule durch dieselben Glastüren, die ihm am ersten Schultag noch etwas unbehaglich vorkamen und nun ganz selbstverständlich Bestandteil seines Lebens geworden sind. Tobias‘ Blick geht zur Straße, dort stehen drei seiner Kollegen, alle tragen sie Springerstiefel und dicke Westen mit Nazilogos - zwei haben eine Glatze. Ein lautes Gegröle erfüllt den Vorhof der Schule, Tobias wird gegrüßt und die Stimmung ist schnell wie immer, wenn die Kameradschaft zusammen kommt. In seinem Rücken öffnet sich die große Glastür erneut. Murat kommt heraus, geht an der Gruppe vorbei und wirft Tobias einen grüßenden Blick zu, ohne die verabscheuenden Blicke und Gesten von Tobias‘ Freunden zu bemerken. Einer der drei tritt einen Schritt zur Seite und versperrt Murat den Weg. „Na du Kameltreiber?“ Nun drehen sich auch die andern beiden um und gehen mit aufstachelndem Gelächter auf ihn zu. Murat ist völlig überrascht und weiß nicht wohin. Der erste Stoß des von dem in der Mitte stehenden Nazis reißt ihn von den Beinen und Murat schlägt mit dem Kopf auf dem harten Bordsteinpflaster auf. Er krümmt sich zusammen, hält sich den Kopf und versucht einen schmerzerfüllten Aufschrei zu unterdrücken. Nun treffen ihn, unter immer lauter werdendem Gelächter und Gegröle, zwei harte, unkontrollierte Tritte von links und rechts in die Seite. Tobias, der das Ganze aus weniger als zwei Metern mit ansieht, wirkt vollkommen weggetreten und bewegt sich keinen Zentimeter. Vor seinen Augen taucht ein Bild auf, so deutlich und scharf, dass er nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden kann: Eine Gang; unsere Gang; das war der Tag, an dem ich die anderen das erste Mal traf, ich bekam eine schwarze Jacke; die Bomberjacke, die ich auch heute trage; die Stimmung war toll; ich war ein Teil von etwas Großem; wir waren stark! Das Bild verschwimmt plötzlich, verändert sich: Eine Masse erscheint; unser Marsch aus dem letzten Jahr; es war der 20. April – Führers Geburtstag; Fackeln, Lieder, im Gleichschritt und mit Stolz. Erneut verschwindet das Bild hinter einem Schleier, der den Vorgang bis zur Unkenntlichkeit entfremdet und eine neue Szene offenbart: Es ist nur ein Bild. Ich sehe die anderen drei und mich selbst. Sie feuern mich nur an und ich schlage mit dem Baseballschläger auf etwas ein. Ich sehe nicht, auf was ich einschlage, doch ich erkenne Blut auf dem Asphalt. Erneut ringe ich nach Luft, ich spüre den Pulsschlag ganz deutlich, mein Herz schlägt schneller, ich erinnere mich an diese Szene, es ist wirklich passiert und ich erschrecke vor mir selbst. Die Farben des Bildes verschwinden; Ich sehe nur noch schwarz und weiß. Es ist kein reales Bild; mehr eine Skizze; eine Karikatur; die Bildmontage aus dem Unterricht. Meine eigenen Worte aus der Stunde schallen mir durch den Kopf: „ ...das ist inszeniert, Nazis sind nicht so!“ Wie konnte ich das behaupten? Wie konnte ich so leichtgläubig sein? Wie konnte ich mich so lange von denen manipulieren lassen? Aus der Bildmontage wird eine Maschine; der Projektroboter, der nur funktionierte, weil untereinander geholfen wurde. Der Roboter wird zum Taschenrechner, zu meinem Taschenrechner. Ich sehe Murat und sein Matheheft; er hilft mir – einfach so. Obwohl er doch wissen muss, dass ich ihn hasse – ohne ihn wäre ich in Mathe dieses Jahr nicht so gut weg gekommen. Ich erinnere mich an die frische Luft, an ein herzhaftes Lachen und an ein Gefühl von Unbekümmertheit.
Die Bilder zerreißen, laute Schreie dringen zu ihm vor, Rufe, sein Name: „Ey Tobi, komm schon! Mach mit! Was stehst du nur rum! Tobi!“ In diesem Moment war er zurück. Tobias sieht drei „Kameraden“ vor sich, grölend, lachend, sie treten grundlos auf Murat ein. Mit zwei schnellen Schritten erreicht er das Geschehen, seine ‚Kumpels‘ machen ihm bereitwillig Platz und rufen ihm etwas zu. Er sieht, wie sich ihre Lippen bewegen, doch den Inhalt ihrer Rufe nimmt er überhaupt nicht mehr wahr. Murat blickt zu ihm hoch, seine dunklen Augen sind voller Schmerz, doch keine Träne ist zu sehen. Für Tobias ist nun alles klar: Er beugt sich zu ihm herunter und reicht ihm seine Hand.
Frederick Gressnich, Matthias Loois und Rafael Reifsteck im Januar 2013